Tadeusz Dąbrowski

 

Gedicht ohne Geheimnis

Schleusentechniker in der Weichselniederung sein,
auf einem unbedeutenden Kanalabschnitt,
mitten in der flachen Landschaft. Jeden Tag
mit dem Rad zu einem Betonhäuschen fahren,
kleiner als der Zeitungskiosk. Durch das quadratische
Fenster die Auf- und Untergänge der Sonne
beobachten. Keine Ahnung von Kunst haben, wissen,
wo Hechte lauern und wo Aale. An
einem nebeligen Morgen Tee mit Spiritus
trinken und dabei im Radio, das nur einen Sender
empfängt, hören, dass auf der Welt über
zehn Millionen Arten von Pflanzen und
Tieren leben, und es nicht glauben können, oder,
dass es Länder gibt, wo Menschen an Hunger
sterben, darüber ins Grübeln geraten, vergessen,
die Schleuse zu schließen. Einige Wiesen überschwemmen.
Und keinerlei Konsequenzen dafür tragen.
 

aus: Tadeusz Dąbrowski. Die Bäume spielen Wald. Gedichte.
Übersetzt von Renate Schmidgall. © 2014 Carl Hanser Verlag München

Gedichtbände (in deutscher Übersetzung), zuletzt:
Schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund. Gedichte.
Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Andre Rudolph, Alexander Gumz
und Monika Rinck. (2010)


Tadeusz Dąbrowski | Geboren 1979 in Elbląg (Polen). Er lebt heute als Lyriker, Essayist und Kritiker in Gdansk (Polen). Er ist Redakteur der Literaturzeitschrift Topos und künstlerischer Leiter des Festivals Europäischer Dichter der Freiheit. Horst-Bienik-Förderpreis 2014.

Tadeusz Dąbrowskis phantastische Poesie […] ist melancholisch und klug, verzweifelt und verspielt und dabei immer schonungslos ehrlich und direkt. Sie ist Nahrung fürs Herz. […] Was Dąbrowski kurzweilige Lyrik neben der messbaren Melancholie eint, ist deren grandioser Witz. Selbst bei den traurigen, persönlichen, ja intimen Gedichten schwingt eine Koketterie mit, die beizeiten sprachlos macht […]. Es gelingt der grandiosen Übersetzung von Renate Schmidgall, diese Pointen und das Melancholisch-Verspielte fulminant wiederzugeben.

Tomasz Kurianowicz