Derek Walcott


54.
 

This page is a cloud between whose fraying edges
a headland with mountains appears brokenly
then is hidden again until what emerges
from the now cloudless blue is the grooved sea
and the whole self-naming island, its ochre verges,
its shadow-plunged valleys and a coiled road
threading the fishing villages, the white, silent surges
of combers along the coast, where a line of gulls has arrowed
into the widening harbour of a town with no noise,
its streets growing closer like print you can now read,
two cruise ships, schooners, a tug, ancestral canoes,
as a cloud slowly covers the page and it goes
white again and the book comes to a close.
 

aus: Weiße Reiher. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Werner von Koppenfels. München: Carl Hanser Verlag 2012

Gedichtbände (in deutscher Übersetzung), zuletzt: Der verlorene Sohn. Gedichte zweisprachig englisch / deutsch. Deutsch von Daniel Göske (2007) Omeros. Gedichte. Deutsch von Konrad Klotz (1990)

Werner von Koppenfels

 

54.

Die Seite hier ist eine Wolke: hinter dem fransigen Saum
springt umrißhaft mit Bergen eine Landzunge vor
und schwindet wieder und was dann aus wolkenlosem Blau
auftaucht, ist das geriefte Meer
und die ganze sprechend benannte Insel, ocker gefaßt,
die Täler in Schatten getaucht, eine gewundene Straße
fädelt die Fischerdörfer auf, still brandet es weiß
die Küste entlang, wo lautlos ein Möwenzug seinen Pfeil
nach dem sich öffnenden Hafen der Stadt abschießt,
ihre Gassen kommen näher wie die Zeilen, die du liest,
zwei Kreuzfahrer, Schoner, ein Schlepper, althergebrachte Kanus,
während die Wolke langsam die Seite bedeckt und sie
wird wieder weiß und das Buch kommt zum Schluß.
 

aus: Derek Walcott: Weiße Reiher. Gedichte zweiprachig.
Deutsch von Werner von Koppenfels.
München: Carl Hanser 2012

Übersetzungen, zuletzt:
Emily Dickinson. Gedichte. (1995)
Desiderius Erasmus: Papst Julius vor der Himmelstür (2011)


Derek Walcott | Geboren 1930 auf St. Lucia, wo er als Lyriker, Dramatiker und Essayist lebt. 1992 erhielt Walcott den Nobelpreis für Literatur und 2011 den T.S. Eliot Prize für seinen Gedichtband White Egrets.

Walcotts „Weiße Reiher“ machen es dem Übersetzer nicht leicht. Die deutsche Version, die die Beweglichkeit dieser Verse nicht an den Reimzwang verraten darf, muß im Vertrauen auf Walcotts eigene erhebliche Lizenzen noch freier mit der Reimfolge umgehen als das Original, ohne das Muster von Einklang und Differenz zu verwischen. Auch Zeilensprünge, Zäsuren, Binnenreime und generell eine expressive Klanglichkeit, die für die Vorlage charakteristisch sind, lassen sich innerhalb des Spielraums, den der Zyklus bildet, recht flexibel nachbilden.

Werner von Koppenfels in seinem Nachwort zu Weiße Reiher


Weiße Reiher sind auf der gesamten Welt verbreitet und für ihre Wanderungen bekannt, so verwundert es nicht, dass man sie auch in Derek Walcotts Gedichten allenthalben antrifft, als Symbol der Kontinuität und dichterischen Freiheit. (…) Die große Kunst dieses Spätwerks besteht darin, aus scheinbar beiläufigen Erlebnissen, Beobachtungen und Einsichten Gedichte von intensiver Leuchtkraft zu schaffen.

Jürgen Brôcan

Werner von Koppenfels | Geboren 1938 in Dresden. Der emeritierte Professor für Anglistik und Komparatistik lebt in München. Übersetzer literarischer Texte aus dem Englischen, Französischen, Spanischen und Lateinischen. Zahlreiche literaturwissenschaftliche Untersuchungen.

1994 Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.
 

Dem Übersetzer Werner von Koppenfels gelingt es, die vielen Untertöne und Anklänge in dem Band, auch wenn sie nicht direkt zu übersetzen sind, doch in ein adäquates Deutsch zu bringen – das ist eine außerordentliche Leistung. (…) Charakteristisch ist dabei der Wechsel zwischen hohen und niederem Ton, zwischen Alltagsslang und leidenschaftlicher Anrufung. Walcott bejaht die Welt, er widmet ihr poetische Höhenflüge, aber das schließt nicht aus, dass er auch mit satirischen Momenten arbeitet und sogar mit zorniger Polemik (...).

Helmut Böttiger


 


Begründung der Jury

 

Der karibische Dichter Derek Walcott und sein deutscher Übersetzer Werner von Koppenfels erhalten für den Gedichtband „Weiße Reiher“ den Preis für Internationale Poesie der Stadt Münster 2013.
Der poetische Weltbürger Derek Walcott hat auf seiner langen Wanderschaft durch den Melting Pot der Kulturen in der Karibik, die ihn von der Insel Saint Lucia nach Boston führte, viele Meilen eines schmerzhaften Exils zurückgelegt und dabei die Leidens- und Kolonialgeschichte der karibischen Inseln aufgeschrieben. Als ein „heimatloser Satellit im Umlauf“, wie es im Gedicht „Nord und Süd“ heißt, durchquert er die Welt, erst recht seit der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1992, der zu einem Zeitpunkt erfolgte, als der hiesige Literaturbetrieb noch nicht einmal seinen Namen buchstabieren konnte.
Walcott schreibt eine Poesie, die nicht nur die „geborstene Geschichte“ des karibischen Archipels neu ordnet und in sinnlichen Bildern die Schönheit von Landschaft, Licht und Meer besingt, sondern auch die Traditionen jener abendländischen Zivilisation aufruft, in deren Namen die Ausplünderung der Karibik dereinst vollzogen wurde. Es ist eine Dichtkunst, die in virtuoser poetischer Synthesis die sinnliche Poesie des Südens mit den metaphysisch ernüchterten Geisteswelten des Nordens zusammenführt.
In seinem monumentalen Versepos „Omeros“, das in deutscher Übersetzung 1995 erschien, verherrlichte Walcott die Seeschwalbe als kosmopolitischen Lotsen der Lüfte, der den Helden nach seinen nomadischen Wanderbewegungen immer wieder nach Hause zurück führen kann. Über den westindischen Archipel und das unabhängige Inselreich Saint Lucia hinweg, wo Walcott 1930 geboren wurde und heute noch lebt, zieht die Seeschwalbe in „Omeros“ ihre Fluglinien und lässt die Phantasie des Dichters weit ausschweifen. In seinem meisterlichen Gedichtbuch „Weiße Reiher“, 2010 im achtzigsten Lebensjahr des Dichters und in deutscher Übersetzung 2012 erschienen, ist es nun die Eleganz der Schreitvögel, die für den Dichter zum Inbegriff der „stolzierenden Vollkommenheit“ werden.
In 54 Gedichten, die zum Teil aus mehrstrophigen Zyklen bestehen, geht Walcott in „Weiße Reiher“ erneut auf Wanderschaft und erkundet in bewegenden elegischen Versen seine Lebensspuren zwischen der Karibik, Europa und Amerika. Die „weißen Reiher“ verkörpern dabei die Natur wie die Dichtung, sie stehen für Leben und für Tod, und ihr Weiß trägt alles in sich: das Weiß des „Seeigelbarts“ des Dichters, das Weiß des Papiers, auf dem der Dichter schreibt und die schaumige Brandung. Die Gedichte des Bandes „Weiße Reiher“ verbinden hohen Ton, Dialekteinsprengsel und schnoddrigen Slang, Naturgeschichte und Zeitgeschichte, Naturmagie und Gesellschaftskritik. Es ist ein Buch der Schöpfungsgeschichte und zugleich ein Requiem, nimmt der Dichter hier doch auch Abschied von vielen dichterischen Weggefährten, die ihn lange begleitet haben. Die elegische Bewegung des Abschiednehmens verwandelt Walcott in eine emphatische Feier des Lebens.
Die Juroren Urs Allemann, Michael Braun, Cornelia Jentzsch, Johann P. Tammen und Norbert Wehr sind einstimmig zur Überzeugung gelangt, dass Derek Walcotts fabelhaftes Gedichtbuch „Weiße Reiher“ auf vollkommene Weise jene poetische Fusion vollzieht, von der einst Joseph Brodsky im Blick auf die Gedichte Derek Walcotts gesprochen hat: „die Fusion von zwei Unendlichkeiten, der Sprache und dem Ozean.“

Der Anglist und Übersetzer Werner von Koppenfels hat für die melodische Bewegung, die mitreißende Rhythmik und den elegischen Versfluss Derek Walcotts kongeniale Lösungen gefunden. Philologische Genauigkeit verbindet er mit einer großen Sensibilität für das Ausdrucksrepertoire und die unterschiedlichen Stilregister des Dichters. Zwar verzichtet Koppenfels weitgehend auf den Endreim, den Walcott sehr gerne einsetzt, aber das sichere Gespür des Übersetzers für Binnenreime, Assonanzen und poetische Musikalität sorgt dafür, dass die Lektüre der zweisprachigen Ausgabe zu einem karibisch-deutschen Poesiedialog wird. Völlig zurecht attestierte die Kritik dieser Übersetzungsleistung, dass „nicht bloße Wortschatten des Originals entstanden sind, sondern echte Parallelgedichte“ (FAZ).